Expertenrunde beim Sporthandelskongress 2021
24.11.2021, 17:00 Uhr
Den Run auf das Fahrrad für die Branche nutzen
Beim diesjährigen Sporthandelskongress von SAZsport am 26. Oktober in München durfte auch das starke Wachstum der Fahrradindustrie nicht unerwähnt bleiben. Eine Expertenrunde schätzte Chancen und Perspektiven für den Sportfachhandel ein.
Sprecher beim Bike-Panel (v.l.n.r.): Alexander Schmitz (Chefredakteur von SAZbike), Helmut Buchheimer (Leiter Produktmanagement und Disposition beim Sporthaus Schuster) und Tobias Schmid (Vertriebsleiter Deutschland bei Schöffel)
(Quelle: SAZsport / Izis Ibrahim)
„Wenn wir uns einmal an die Anfangsphase zurückerinnern: über Nacht Lockdowns weltweit, in der Fahrradbranche ging auch nichts mehr, Rad- und Sportgeschäfte waren zu, Rad- und Sportmessen wurden abgesagt, wir durften nicht einmal mehr mit Freunden am Wochenende radeln gehen. Wie war die Stimmung in der Fahrradbranche?“, so eröffnete Moderator Bernd-Uwe Gutknecht vom Bayerischen Rundfunk das Bike-Panel im sechsten Stock des Hauses der Bayerischen Wirtschaft.
Alexander Schmitz, Chefredakteur der SAZbike, brachte auf den Punkt, was vor allem in der Finanzindustrie als ungeschriebenes Gesetz gilt: „Extreme Angst geht immer finanziellen Möglichkeiten voraus.“ Fachhändler und -händlerinnen, die zu Beginn der Corona-Krise nach diesem Motto handelten, wurden dafür später belohnt und konnten in Zeiten des Rohstoffmangels und der Lieferprobleme ihre Kunden und Kundinnen weiter bedienen, während in anderen Geschäften beinahe gähnende Leere herrschte, vor allem, wenn es um bestimmte gefragte Produkte ging.
Das Fahrrad im Sportfachhandel neu entdecken
Helmut Buchheimer, Leiter Produktmanagement und Disposition des Sporthaus Schuster in München, entdeckte in der Zeit des ersten Lockdowns den Bereich Fahrrad und Zubehör für sein Unternehmen neu und konnte dadurch profitieren. Obwohl das Sporthaus Schuster alles andere als ein spezialisiertes Fahrradfachgeschäft ist, wurde insbesondere Fahrradzubehör zu einem wichtigen Umsatzträger: „Die Kunden standen nicht Schlange, um ein neues Fahrrad zu kaufen. Sie wollten die Dinge kaufen, die sie sofort im Englischen Garten nutzen können oder zum Radfahren in die Stadt brauchen.“
Aufgrund der teilweise erheblichen Verzögerungen in den Lieferketten muss im Bereich Bike und Zubehör jedoch Flexibilität gelebt werden. Händler und Händlerinnen sollten versuchen, eine möglichst breite Produktpalette anzubieten, um nicht verfügbare Ware kompensieren zu können. Kunden und Kundinnen suchen oftmals nach ganz bestimmten Produkten. Wenn diese nicht verfügbar sind, ist es die Aufgabe des Fachhandels, entsprechend zu beraten und Alternativen zur Verfügung zu stellen. Besonders im Zubehörbereich zeigt sich die Kundschaft öfter flexibel und weicht vom Wunschprodukt ab, sodass hier eine entsprechende Präsenz des Sportfachhandels durchaus sinnvoll sein kann. Bei Fahrrädern und E-Bikes selbst ist es jedoch schwierig, mit dem Fahrradfachhandel Schritt zu halten, da dieser neben einer größeren Auswahl auch meistens mit der eigenen Werkstatt einen besseren Service bietet – der in seinen technischen und personellen Anforderungen immer anspruchsvoller wird. Auch Buchheimer berichtet mit Blick auf den Verkauf von E-Bikes in seinem Geschäft, dass „Kunden ganz genau wissen, was sie wollen“. Das gelte vor allem für spezialisierte Segmente und weniger für gewöhnliche City- oder Trekking-Bikes.
Buchheimer sieht die größeren Investitionen als Problem für den Sportfachhandel: „Natürlich gehört da eine ordentliche Vorinvestitionen mit dazu. Und das ist wahrscheinlich die Hemmschwelle für viele – einen mittleren fünfstelligen Betrag aufzurufen, für eine Fahrradwerkstatt. Einen Fahrradmechaniker zu finden ist auch nicht so leicht, wenn man sich einmal die Stellenanzeigen anschaut, werden ja nur die gesucht. Auch wir haben unseren festgekettet und vollversorgt.“ Die Vorfinanzierung der Fahrräder sei ein großer Posten, doch wenn man diese leiste, könne man das ganze Jahr über Kunden und Kundinnen binden und Zubehörprodukte besser einschätzen. Die Kundschaft würde für diese dann immer wiederkommen.
Wird im Sportfachhandel trotz der hohen Vorinvestitionen der verstärkte Verkauf von Fahrrädern oder E-Bikes in Betracht gezogen, kann es auch lohnend sein, sich auf einen Teilbereich wie Mountainbike, Rennräder, Gravel- oder Crossbikes zu fokussieren. Wesentlich ist dabei die genaue Analyse der Kunden- und Zielgruppen, die im Bereich Fahrrad so vielfältig wie in fast keinem anderen Bereich sind und durch politische Maßnahmen wie dem Nationalen Radverkehrsplan wohl auch in Zukunft weiter wachsen werden. „Ganz wichtig ist, dass man weiß, was die eigene Strategie und das eigene Umfeld sind – das heißt: Wie und wo ist mein Kunde, welchen Sport treibt er? Und dann muss ich mich spezialisieren. Wenn das Thema Fahrrad dazu passt, dann muss man das mit aller Konsequenz für sich umsetzen“, weiß Buchheimer.
Themenbereiche und Erlebniswelten schaffen
„Das Fahrrad wird immer technischer“, erklärte Christopher Haas, Vertriebsleiter beim Taschenhersteller Ortlieb. Dennoch sieht auch er Chancen für den klassischen Sportfachhandel, wenn sich dieser mit dem Thema Fahrrad mehr auseinandersetzt: „Wir bei Ortlieb sind seit Beginn beim großen Thema Bikepacking mit dabei und wir sehen, dass der Kunde, der sich für solche Microadventures oder Bikepacking interessiert, zwar das passende Fahrrad dafür im Fahrradladen bekommen. Aber er braucht eben zusätzlich noch einen Schlafsack, einen Gaskocher oder andere Dinge, die er im Fahrradfachhandel so nicht unbedingt findet. Deshalb geht er dann sowieso in ein Sportfachgeschäft, um dort dann die Taschen oder anderes Zubehör nachzufragen.“ Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen haben zudem den Rad-Tourismus befeuert, auch bei jüngeren Zielgruppen: „Hier gilt es sowohl für Hersteller als auch Händler, das Potenzial solcher Kurzausflüge zu zeigen. Wir wissen von vielen Händlern, die beispielsweise mit wöchentlichen Ausfahrten sehr erfolgreich sind, die dabei Produkte vor allem im Zubehörbereich vorstellen“, weist Alexander Schmitz auf die Möglichkeiten hin.
Die Fokussierung auf bestimmte Themenbereiche oder Erlebniswelten lassen sich auch in Kooperation mit Herstellern gut umsetzen. So bietet beispielsweise der Outdoor-Bekleidungsspezialist Schöffel spezifisch Produkte für drei Zielgruppen an – für Gravelbiker, Travel und Trail: „Es gibt klar definierte Bedürfnisse, die dann dem Nutzen der Klamotte entsprechen. Ich kann nur darum bitten, die klare Kante zu zeigen. Bist du als Händler der klassische Bike-Spezialist oder für das Thema Bike & Hike? Das liegt schon auch in der Verantwortung des Händlers, denn nebenbei wird nicht funktionieren. Das wird in den nächsten Monaten sehr entscheidend.“ Diese Kundenbedürfnisse können beispielsweise auch anhand saisonaler Ausrichtung bedient werden. Wenn im Winter das Thema Ski im Sportfachhandel den größten Platz einnimmt, warum dann nicht das Thema Fahrrad im Sommer? Dennoch sollte eine ganzjährliche Sichtbarkeit sichergestellt werden, damit die der Kunde schon beraten werden kann, auch wenn er oder sie sich das Produkt dann erst Monate später kaufen möchte.
Online oder stationär?
Die Frage, ob online oder stationär stellte sich für Alexander Schmitz überhaupt nicht: Der erste Schlüssel ist zu akzeptieren, dass online kein Rivale ist, sondern ein Kanal. Auch der stationäre Handel kann den Online-Kanal für sich nutzen. Das Schöne daran ist, dass immer mehr Hersteller den Handel dabei mit ihren Lösungen und Konzepten unterstützen. Jeder Händler und jede Händlerin muss sich dann aber auch für diese Ideen öffnen. „Zu sagen, online geht nicht, diese Zeiten sind vorbei“, so Schmitz. Jeder Händler könne für sich die passende Lösung finden, um online zu existieren. Das heißt nicht sofort, dass er auch online verkaufen muss. Online aufzufallen und so die Kunden zu sich ins Geschäft zu holen, reiche oftmals bereits aus.
Im Online-Handel stellt sich bei größeren Produkten wie Fahrrädern natürlich das Problem des Versands. Doch Helmut Buchheimer bestätigt das, was durch den Erfolg von Online-Versendern wie Fahrrad.de bereits bekannt ist: „Wir verkaufen online überdurchschnittlich viele Räder, da die Marktsituation in Deutschland so ist, dass der Bedarf so hoch ist.“ Es gebe Modelle, die bei anderen Online-Anbietern oder Fahrradhändlern nicht verfügbar sind, die dann auch bei Anbietern im Sportfachhandel gekauft werden. Allerdings müsse man sich im Klaren sein, dass der Versand von Fahrrädern mit Aufwand und höheren Kosten verbunden ist – Speditionskosten, Vorbereitung, Service, Rücksendung und Wartung.
Die Bike-Community ansprechen
Ob Pendler, Freizeitfahrer oder die wachsende Anzahl an Frauen im Radsportbereich: Es gibt viele Gruppierungen in der Fahrrad-Szene, die mittlerweile großen Wert auf Style und Optik legen. „Fahrradfahren soll sexy sein“, von diesem Motto kann der Sportfachhandel profitieren, wenn er mit passendem Zubehör wie Taschen, Rucksäcke, Kleidung und technischen Accessoires den Nerv einer Fahrrad-Community trifft. Insbesondere Frauen sieht Tobias Schmid, Vertriebsleiter Deutschland bei Schöffel, hier als vielversprechende Zielgruppe: „Die Damen-Community ist im Bike-Bereich sehr weit vorne. Sie sind diejenigen, die etwas Besonderes suchen und sehr auf Dinge wie Passform und Design achten. Die Damenwelt ist da dynamischer abzuholen als der Mann.“
Daran schließt sich das Thema Nachhaltigkeit an: „Grundsätzlich muss man sagen, je höher der Modegrad, desto häufiger stellt sich auch die Frage nach der Produktion und der Herkunft des Produkts, also nach der Nachhaltigkeit“, berichtet Helmut Buchheimer aus seinem Sporthaus. Bei funktionellen Produkten spiele Nachhaltigkeit jedoch eine untergeordnete Rolle bei der Kaufentscheidung. Dennoch zeige sich, dass das Grundverständnis für nachhaltige Produkte deutlich höher ist als in der Vergangenheit. Wichtig sei grundsätzlich, dass das Produkt zur jeweiligen Sportart passt.
Glänzende Aussichten
Mit dem von Noch-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer vorgestellten Nationalen Radverkehrsplan 3.0 wurden ambitionierte Ziele für den Radverkehr gesetzt. Das Niveau der Niederlande oder Dänemarks zu erreichen, wird bis 2030 nicht gelingen. Doch wenn der politische Wille gegeben ist, – wie beispielsweise in Paris unter Führung der Bürgermeisterin Anne Hidalgo – dann werden das Fahrrad und die Rad-Community in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung gewinnen – und damit auch der Handel mit Produkten rund ums Bike. Die Voraussetzung dafür wird aber zunächst einmal eine Besserung der Lieferprobleme sein: „Das Rad gibt’s im Dezember, das Jahr gebe ich noch nicht an“, resümiert Helmut Buchheimer. Fast einig waren sich die Redner aber letztendlich in dem Punkt, dass bis 2030 Deutschland vom Autoland zum Fahrradland wird.