Interview mit Marco te Brömmelstroet
24.07.2024, 09:28 Uhr
„Wir brauchen eine Gesellschaftswende“
Der Mobilitätsforscher und -professor Marco te Brömmelstroet erklärt, inwiefern ein altes Denken über Mobilität heute unsere Straßen beherrscht und was sich an diesem Bild in Zukunft ändern muss.
Marco te Brömmelstroet hat den Lehrstuhl für urbane Mobilitätszukunft an der Universität Amsterdam inne. Seine Lehrtätigkeit konzentriert sich auf Kurse zum Thema Flächennutzung und Mobilität in den Bachelor- und Masterstudiengängen für Stadtplanung. Te Brömmelstroet, der Masterabschlüsse in Infrastrukturplanung und geografischem Informationsmanagement besitzt, ist auch Vorstandsvorsitzender des Forschungsinstituts Urban Cycling Institute, das zum Centre for Urban Studies gehört. Das Institut erforscht die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Radfahren, der Gesellschaft und den Städten und ist auch aktiv an der internationalen Verbreitung des niederländischen Radfahrwissens beteiligt. Außerdem ist er akademischer Direktor des Lab of Thought, einer gemeinnützigen Organisation, die dabei helfen will, Mobilität von Grund auf neu zu denken. Im Gespräch mit SAZbike erklärt er, warum Mobilität heute anders gedacht werden muss:
SAZbike: Herr te Brömmelstroet, Sie haben den Lehrstuhl für urbane Mobilitätszukunft an der Universität Amsterdam inne. Worauf liegt der Fokus bei Ihrer Forschung im Bereich der Mobilität?
Marco te Brömmelstroet: Als Sozialwissenschaftler faszinieren mich die Geschichten und Vorstellungen, die die Grundlage unseres Mobilitätssystems und unserer Straßen bilden. Wie verfestigten und verfestigen sie sich zu Richtlinien, Normen und Institutionen und zu Beton, Stahl und Technologien? Mit unserer Forschung untersuchen wir auch, ob und wie alternative Vorstellungen uns dabei helfen können, die dringend benötigten Veränderungen in unseren Mobilitätssystemen und auf unseren Straßen zu erreichen.
SAZbike: Was sind denn die wichtigsten Einflüsse auf unser heutiges Denken über und Gestalten von Mobilität? Woher kommen diese?
Te Brömmelstroet: Als die Sprache der Verkehrstechnik in den 1920er-Jahren erfunden wurde, wurden die ersten Ideen und Metaphern aus der Wassertechnik und Biologie übernommen. So sehen wir Straßen als Abwasserleitungen, die nie verstopfen dürfen und auch bei Spitzenbelastungen (Rush Hour) funktionieren. Und mit der Vorstellung von ‚Verkehrsadern‘, die den Verkehr in das ‚Herz der Stadt‘ pumpen, verwenden wir auch unsere ganze Aufmerksamkeit darauf, sie nicht zu verstopfen (oder: "zu überfüllen"), um einen ‚Verkehrsinfarkt‘ zu verhindern, für den wir Umgehungsstraßen bauen müssen.
Später, als die Computer es uns ermöglichten, Verkehrsmodelle zu erstellen, kam eine wichtige neue Metapher hinzu und verfestigte sich: die Idee aus der Wirtschaftswissenschaft, dass alle Menschen egoistische, kalkulierende und isolierte Individuen sind, die nur darauf abzielen, ihren persönlichen Nutzen zu maximieren. Und der Weg von A nach B ist dabei ein Negativum: ein Nachteil, den jeder minimieren möchte. Dieser Gedanke lässt uns glauben, dass wir alles in unserer kollektiven Macht stehende tun sollten, um ‚Reisezeiteinsparungen‘ zu erzielen.
SAZbike: Was fehlt bzw. ignorieren wir in unserem heutigen Umgang mit Mobilität?
Te Brömmelstroet: Eine Sprache ist kein Spiegel der Realität, sondern prägt unsere Handlungen zutiefst. Wenn wir unser Verständnis von Straßen durch die oben genannten Vorstellungen einschränken, optimieren wir sie als Rohrleitungen, in denen der Einzelne so schnell und einfach wie möglich reisen möchte. Dies geht auf Kosten aller anderen Dimensionen, denen die Straße als öffentlicher Raum diente. Wir haben den sicheren Raum verloren, in dem unsere Kinder spielen und Autonomie entwickeln können, in dem sie sich treffen und sich begegnen können, in dem sie handeln können, in dem sie kulturelle Identität und Natur erleben können. Nicht, weil wir diese Entscheidung gemeinsam getroffen haben und sie für eine gute Idee halten, sondern weil wir die Sprachwahl langsam für selbstverständlich gehalten haben. Wir sind in einer technokratischen und entpolitisierten Art des Umgangs mit öffentlichen Räumen stecken geblieben. Das hat unsere Vorstellung verfestigt.
Außerdem ist die Geschichte selbst fehlerhaft. Die Menschen haben die zunehmende Erleichterung des Reisens nicht dazu genutzt, um Reisezeit zu gewinnen, sondern sie haben tatsächlich erhebliche Reiseentfernungen gewonnen. Aktivitäten und Orte wie Schulen, Supermärkte, Arbeitsstätten oder Apotheken häuften sich in größeren Entfernungen an. Während die Menschen in den 1950er-Jahren im Durchschnitt etwa sieben Kilometer pro Tag zurücklegten, um ihre Aktivitäten zu erreichen, sind es heute fast 45 Kilometer. Wir sind vom Auto abhängig geworden, und diese Abhängigkeit erschöpft uns als Individuen, erschöpft unsere Umwelt und erschöpft die Gesellschaft als Ganzes.
Da jede Geschichte per Definition begrenzt ist, wird jede Geschichte, wenn wir ihr blindlings folgen, eine begrenzte Realität mit widersinnigen Auswirkungen schaffen. Was wir ignorieren, ist, dass wir offener für die volle Komplexität der Dilemmata sein sollten, die sich in unserem öffentlichen Raum abspielen, und dass wir ein viel größeres politisches Bewusstsein dafür haben sollten, welche Entscheidungen erwünscht sind und wie sich diese im Laufe der Zeit verändern können.
SAZbike: Was (wenn überhaupt) hat sich in der Art und Weise, wie Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit über Mobilität denken, in den letzten Jahren oder Jahrzehnten geändert?
Te Brömmelstroet: Die Normen, Richtlinien und Institutionen, in denen sich die Geschichten aufgelöst haben, haben der westlichen Gesellschaft in der Zeit der Stabilität und des lokalisierten Wirtschaftswachstums gut gedient. Solange wir ignorieren konnten, dass wir den Großteil der gesellschaftlichen Kosten in Form von Rohstoffabbau und Müllentsorgung an andere Orte der Welt verlagert haben. Und auf andere Zeiten, indem wir die langfristigen Auswirkungen der Infrastrukturen, die wir bauen mussten, ignorierten. In den letzten zehn Jahren scheint es, als ob wir zunehmend an die Grenzen dieser Vorgehensweise stoßen. Wir sehen uns mit der Notwendigkeit konfrontiert, in vielzähligen gesellschaftlichen Bereichen transformative Veränderungen herbeizuführen. Auch die Mobilität ist hiervon nicht ausgenommen.
SAZbike: Inwiefern müssen wir die Art und Weise ändern, wie wir über Mobilität denken und sie gestalten, um eine echte Mobilitätswende zu erreichen und die Probleme der heutigen Mobilität wirklich zu lösen?
Te Brömmelstroet: Wie wir in unserem Buch ‚Gesellschaft in Bewegung‘ argumentieren, brauchen wir keine Verkehrswende. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaftswende. Wir können die Probleme nicht lösen, wenn wir nicht die Grundlagen, auf denen unsere Mobilitätssysteme aufgebaut sind, grundlegend in Frage stellen. Sonst riskieren wir, das System immer wieder neu aufzubauen, mit geringfügigen Änderungen der Parameter. Wir müssen viel tiefer gehende politische Debatten darüber führen, was die verschiedenen Ziele der Mobilität, die verschiedenen Hauptzwecke von Mobilitätssystemen und die verschiedenen Dimensionen unserer Straßen sind. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir uns alle darüber einig sind, wie es jetzt Teil unserer Massenhypnose ist. Städte, in denen dies derzeit so gehandhabt wird, wie die Stadt Groningen, stellen ebenfalls schnell fest, dass wir die Art und Weise, wie wir über unseren öffentlichen Raum entscheiden, ihn gestalten und pflegen, völlig neu organisieren müssen. Es müssen viel mehr Dimensionen einbezogen und mehr Agilität organisiert werden. Wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie wir mit Mut und Neugier voranschreiten können, anstatt uns von der Angst vor Veränderungen aufhalten zu lassen.
Das gilt auch für Paris, wo neue Geschichten von Anne Hidalgo darüber, was eine ‚gute Stadt‘ ist, mit einem Ansatz verknüpft wurden, bei dem alle Grundschulen das Recht erhielten, ein Experiment mit einer Schulstraße durchzuführen. Die Stadt unterstützt jede Schule mit einer vorübergehenden Straßensperrung für Autos und einer Öffnung für Kinder und Grünflächen. Wenn dies zu einem Verkehrschaos führt, wird die Struktur entfernt. Wenn nicht, wird sie dauerhaft eingerichtet. Bislang haben 210 Schulen die erste Phase durchlaufen, und alle 210 wurden in einen dauerhaften Zustand versetzt.
Es ist dieser eher experimentelle Weg, den wir brauchen, um gemeinsam herauszufinden, wie wir das schreckliche Experiment der letzten Jahrzehnte beenden können, in denen wir versucht haben, unsere gesamten Städte und unsere Gesellschaft an das Auto anzupassen.
SAZbike: Wie würde die ideale Mobilität in der Zukunft aussehen? Haben verschiedene Verkehrsmittel (Fahrräder, Autos, Fußgänger, Busse usw.) einen Platz in dieser Zukunft, können sie nebeneinander bestehen und welche Rolle werden sie spielen?
Te Brömmelstroet: Die Menschen sollten die Wahl haben, das Fahrzeug zu benutzen, das ihnen am meisten zusagt. Wir sollten jedoch vermeiden, durch eine Einschränkung dieser Wahlmöglichkeit Abhängigkeiten zu schaffen. Und gleichzeitig sollten wir sicherstellen, dass die tatsächlichen Kosten dieser Wahlmöglichkeiten in den Preis für den Einzelnen einfließen. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass etwa 40 Prozent der Kosten, die durch den Besitz und die Nutzung eines Autos entstehen, auf die Gesellschaft und die Umwelt umgelegt werden. Man denke nur an die Verschmutzung durch Abgase, den Verschleiß von Reifen, Bremsen und Straßenbelag (ultrafeine Partikel) und den Lärm oder die Gefährdung anderer Menschen und natürlich die enorme Inanspruchnahme des öffentlichen Raums. Wir wissen immer genauer, welchen Tribut all dies für unsere kollektive körperliche, geistige und soziale Gesundheit fordert. Allein die Zahl der Todesopfer durch Autos wird von Forschern auf rund 80 Millionen Menschen geschätzt. All dies bedeutet, dass wir die Nutzung von Autos derzeit unterbewerten oder sogar subventionieren und damit die Nutzung und Abhängigkeit von Autos um mindestens 40 Prozent erhöhen.
Indem wir sicherstellen, dass die tatsächlichen Kosten dieser Entscheidungen in den Preis für den Einzelnen einfließen, können wir dafür sorgen, dass die Freiheit des Einzelnen nicht auf Kosten der Freiheit anderer geht. Heute schränkt eine autogestützte Stadt die Wahlfreiheit und die allgemeine Freiheit vieler Menschen ein, vor allem die von Kindern und älteren Menschen. Und sie schränkt die Wahlmöglichkeiten künftiger Generationen ein, indem sie die materiellen und ökologischen Ressourcen erschöpft.
SAZbike: Wie sollte aus Ihrer Sicht die Mobilität als Konzept und System in 10, 30, 50 Jahren aussehen? Und wie würde sich das in der Praxis auf unser tägliches Leben auf den Straßen und deren Nutzung auswirken?
Te Brömmelstroet: Als etwas, das wir stark anfechten, etwas, das nicht von entpolitisierten Experteninstitutionen behandelt wird, sondern durch demokratische Beratung. In dem wir Lösungen entwickeln, die wir leicht anpassen können, in dem wir anderen keine negativen Auswirkungen aufbürden und in dem unsere Straßen wieder als eine Geschichte der Gerechtigkeit und nicht als eine Geschichte des effizienten Durchsatzes diskutiert werden können. Eine der Entwicklungen, die wir in vielen Städten und Ländern beobachten können, ist eine zunehmende Vielfalt an unterschiedlichen Straßennutzungen. Dies erfordert natürlich, dass viel weniger Platz für die derzeitige Monopolisierung der Straßen als Park- und Fahrflächen zur Verfügung steht. Wenn dann noch die Geschwindigkeiten gesenkt werden, kann sich der verbleibende Verkehr leicht mit verweilenden Menschen, spielenden Kindern, viel mehr Grün- und Wasserflächen und Räumen für lokale Unternehmer vermischen. Dies ist dann Teil einer langsameren Stadt und eines langsameren Lebens, in dem neue Qualitäten von Nähe und Geselligkeit in den Mittelpunkt unseres öffentlichen Raums zurückkehren.
SAZbike: Herr te Brömmelstroet, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview wurde erstmals in der SAZbike-Sonderausgabe „Mobilität neu denken“ veröffentlicht. Die gesamte Ausgabe ist hier verfügbar.