SAZbike sprach mit Wasilis von Rauch (BVZF)
16.12.2021, 11:30 Uhr
„Die Zukunft gehört dem Rad“
Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sorgt auch in der Fahrradbranche für viel Wirbel. SAZbike sprach darüber mit Wasilis von Rauch, Geschäftsführer des Bundesverbands Zukunft Fahrrad (BVZF).
Wasilis von Rauch ist Geschäftsführer des 2019 gegründeten Bundesverbands Zukunft Fahrrad (BVZF e.V.). Zuvor war er von 2014 bis 2018 Mitglied im Vorstand des ökologischen Verkehrsclubs VCD, die letzten beiden Jahre als Bundesvorsitzender. Vorher hat er beim VCD unterschiedliche Fahrradprojekte geleitet. Als Cargo- und E-Bike-Experte hat Wasilis von Rauch unter anderem die bundesweite Cargobike Roadshow ins Leben gerufen und einen Cargobike-Test in Kooperation mit dem Extra Energy e.V. durchgeführt. Im Gespräch mit SAZbike bewertet er den Koalitionsvertrag der neuen Regierung.
SAZbike: Herr von Rauch, wie bewerten Sie insgesamt den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP für die Fahrradbranche und Radfahrende in Deutschland?
Wasilis von Rauch: Licht und Schatten, wobei man ehrlich konstatieren muss, dass der Schatten überwiegt. Wenn wir den Vertrag der letzten Regierung von 2018 vergleichen, ist es zunächst ein Fortschritt: Damals wurde der Radverkehr in den Themen „Nahverkehr“ und „ländlicher Raum“ versteckt, jetzt gibt es ein eigenes Kapitel. Dieses ist mit fünf Zeilen allerdings sehr knapp und wenig konkret. Das kann ein echtes Problem werden, darauf komme ich noch zurück.
Es fehlen konkrete Maßnahmen, um den Radverkehr sicher nach vorne zu bringen und eine echte Verkehrswende auf der Straße zu erreichen. Genauer gesagt: Das Wort „Verkehrswende“ fehlt schlichtweg im Koalitionsvertrag. Für eine solche bräuchte es nämlich Schritte zur sinnvollen Begrenzung des Autoverkehrs (MIV), denn letztendlich geht es um begrenzte Flächen und darum, finanzielle Förderungen fair zu gestalten. Es geht darum, Wahlfreiheit und Chancengleichheit zwischen allen Verkehrsmitteln herzustellen. Aber von Dieselprivileg über Dienstwagenbesteuerung und Pendlerpauschale bis hin zur Förderung des E-Pkw wird die bisherige autozentrierte Ausrichtung fortgeschrieben. Dabei wären genau da Veränderungen relativ einfach und sehr effektiv.
Der Abbau des Dieselprivilegs und eine Reform der E-Mobilitätsförderung, die das Fahrrad angemessen einbezieht, wären richtige Signale gewesen und hätten aus unserer Sicht dringend in den Vertrag gehört. Um es ganz deutlich zu sagen: So wird der Verkehrssektor in den nächsten Jahren auf keinen Fall auf Kurs für die Klimaziele der Bundesregierung kommen. In der Konsequenz heißt das, dass in Richtung 2030 immer drastischere Einschnitte nötig werden, um das nachzuholen.
SAZbike: Welche Aspekte sind besonders positiv für die Fahrradwirtschaft?
Von Rauch: Sehr positiv und bedeutsam ist die angekündigte Novelle des Straßenverkehrsgesetzes (StVG), eine unserer Kernforderungen. Das StVG ist das „Dach“, unter dem alle wichtigen Verordnungen für den Verkehr stehen, etwa die Straßenverkehrsordnung (StVO). Wenn im StVG Klima- beziehungsweise Umweltschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung gleichwertige Ziele werden, erzeugt das Anpassungsdruck für alle weiteren Verordnungen. Die müssen dann entsprechend nachgebessert werden. Es kommt jetzt darauf an, die Reform zeitnah umzusetzen und die verschiedenen Ziele in das richtige Verhältnis zu setzen. Das Thema darf keinesfalls auf die lange Bank geschoben werden.
SAZbike: Herr von Rauch, wie bewerten Sie insgesamt den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP für die Fahrradbranche und Radfahrende in Deutschland?
Wasilis von Rauch: Licht und Schatten, wobei man ehrlich konstatieren muss, dass der Schatten überwiegt. Wenn wir den Vertrag der letzten Regierung von 2018 vergleichen, ist es zunächst ein Fortschritt: Damals wurde der Radverkehr in den Themen „Nahverkehr“ und „ländlicher Raum“ versteckt, jetzt gibt es ein eigenes Kapitel. Dieses ist mit fünf Zeilen allerdings sehr knapp und wenig konkret. Das kann ein echtes Problem werden, darauf komme ich noch zurück.
Es fehlen konkrete Maßnahmen, um den Radverkehr sicher nach vorne zu bringen und eine echte Verkehrswende auf der Straße zu erreichen. Genauer gesagt: Das Wort „Verkehrswende“ fehlt schlichtweg im Koalitionsvertrag. Für eine solche bräuchte es nämlich Schritte zur sinnvollen Begrenzung des Autoverkehrs (MIV), denn letztendlich geht es um begrenzte Flächen und darum, finanzielle Förderungen fair zu gestalten. Es geht darum, Wahlfreiheit und Chancengleichheit zwischen allen Verkehrsmitteln herzustellen. Aber von Dieselprivileg über Dienstwagenbesteuerung und Pendlerpauschale bis hin zur Förderung des E-Pkw wird die bisherige autozentrierte Ausrichtung fortgeschrieben. Dabei wären genau da Veränderungen relativ einfach und sehr effektiv.
Der Abbau des Dieselprivilegs und eine Reform der E-Mobilitätsförderung, die das Fahrrad angemessen einbezieht, wären richtige Signale gewesen und hätten aus unserer Sicht dringend in den Vertrag gehört. Um es ganz deutlich zu sagen: So wird der Verkehrssektor in den nächsten Jahren auf keinen Fall auf Kurs für die Klimaziele der Bundesregierung kommen. In der Konsequenz heißt das, dass in Richtung 2030 immer drastischere Einschnitte nötig werden, um das nachzuholen.
SAZbike: Welche Aspekte sind besonders positiv für die Fahrradwirtschaft?
Von Rauch: Sehr positiv und bedeutsam ist die angekündigte Novelle des Straßenverkehrsgesetzes (StVG), eine unserer Kernforderungen. Das StVG ist das „Dach“, unter dem alle wichtigen Verordnungen für den Verkehr stehen, etwa die Straßenverkehrsordnung (StVO). Wenn im StVG Klima- beziehungsweise Umweltschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung gleichwertige Ziele werden, erzeugt das Anpassungsdruck für alle weiteren Verordnungen. Die müssen dann entsprechend nachgebessert werden. Es kommt jetzt darauf an, die Reform zeitnah umzusetzen und die verschiedenen Ziele in das richtige Verhältnis zu setzen. Das Thema darf keinesfalls auf die lange Bank geschoben werden.
„Städte und Dörfer müssen lebenswerte Orte für Kinder und Alte sein“
SAZbike: Warum ist eine zeitnahe Umsetzung so wichtig?
Von Rauch: Städte und Dörfer müssen lebenswerte Orte für Kinder und Alte sein. Wenn außerdem das bestehende Ziel, ein guter „Verkehrsfluss“, nicht nur für das Auto gilt, ist hier wirklich Musik drin – denn eines ist ja klar: Oftmals ist es in jeder Hinsicht sinnvoller, einen Transport mit dem Fahrrad oder Lastenrad zu machen als mit einem Dieseltransporter. Ein Verkehrssystem mit einem guten öffentlichen Nahverkehr und lückenlosen Radwegenetzen ist auch wirtschaftlich leistungsfähiger als die „autogerechte Stadt“, weil es deutlich mehr Kapazität hat. Darüber hinaus würde es der Fahrradwirtschaft natürlich Aufschwung geben.
SAZbike: Im Koalitionsvertrag wird der Nationale Radverkehrsplan (NRVP) kurz angesprochen. Was halten Sie davon?
Von Rauch: Das Bekenntnis zur Umsetzung des NRVP und die Absicherung der Finanzmittel des Bundes bis 2030 sind positiv. Aber hier komme ich zu dem eben angedeuteten Problem. Im Vertrag steht: „Wir werden den NRVP umsetzen und fortschreiben“ – das kann viel heißen, aber auch sehr wenig. Warum? Der NRVP ist ein sehr umfassender Plan. Ein paar Beispiele: Der bisherige Verkehrsminister Andreas Scheuer wollte mit dem NRVP zum Schluss 30 Prozent aller Lieferungen in Städten mit Cargobikes erreichen, Deutschlands Fahrradwirtschaft stärken, es zum Fahrradpendlerland machen und vieles mehr.
Auch Verkehrsminister Volker Wissing soll erfahren, dass das Fahrrad ein politisches Gewinnerthema ist.
Quelle: FDP
Ein weiterer guter Aspekt ist, dass intermodaler Verkehr gestärkt werden soll. Das Fahrrad ist im Zusammenspiel mit dem ÖV unschlagbar. Deswegen haben wir als Verband Zukunft Fahrrad auch das „Bündnis nachhaltige Mobilitätswirtschaft“ initiiert und arbeiten gemeinsam mit Allianz pro Schiene, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, Bundesverband Carsharing und vielen weiteren an genau dieser „intermodalen“ Vernetzung. Der Koalitionsvertrag bestätigt den Sinn dieser Initiative, das freut uns sehr.
„Von allein wird Deutschland auch seine starke Stellung für die internationale Fahrradwirtschaft nicht weiter ausbauen“
SAZbike: Welche Punkte im Koalitionsvertrag kritisieren Sie beziehungsweise fehlen Ihnen diesbezüglich?
Von Rauch: Um am letzten Punkt anzuknüpfen: Der Koalitionsvertrag bleibt auch hier maximal unkonkret. Wie soll der intermodale Verkehr konkret gestärkt werden? Welche Ziele sollen erreicht werden? Und selbst hier hat das Auto immer noch Vorfahrt: Während das Carsharing explizit erwähnt und gefördert werden soll, bleibt etwa das Bikesharing unerwähnt. Das kann uns als Branche nicht zufrieden stellen.
Es ist richtig, dass die Koalitionäre schreiben, dass sie den Nationalen Radverkehrsplan umsetzen wollen. Aber es fehlen konkrete Maßnahmen und Zwischenziele. Denn von allein kommen beispielsweise die 30 Prozent städtischer Lieferungen nicht aufs Lastenrad – die Potenziale des Lastenrads anzuerkennen und die Verbreitung entsprechend zu fördern, fehlt ohnehin komplett. Von allein wird Deutschland auch seine starke Stellung für die internationale Fahrradwirtschaft nicht weiter ausbauen. Da braucht es ehrgeizige Ziele, Mittelstandsförderung, Gewinnung von Fachkräften und generell fokussierte Wirtschaftspolitik.
SAZbike: Ein wichtiges Thema ist auch die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer, Stichwort Tempo 30 …
Von Rauch: Absolut. Aber beim Thema Verkehrssicherheit habe ich Bedenken. Es ist ein krasser Widerspruch, einerseits die Umsetzung der „Vision Zero“ zu wollen und gleich im Anschlusssatz ein Tempolimit auszuschließen. Unangepasste Geschwindigkeit ist nun mal der zentrale Grund für schwere Unfälle, ob auf der Autobahn oder in der Innenstadt. Wir hoffen aber, dass Kommunen in Zukunft die Freiheit bekommen, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einzuführen. Das ist überfällig und sehr wichtig für die Entwicklung des Radverkehrs.
Und last, but not least: Dienstliche Mobilität ist überproportional für die CO2-Emissionen auf deutschen Straßen verantwortlich. Funktionierende Lösungen wie das Dienstradleasing gehören auf eine gesetzliche Grundlage gestellt und betriebliches Mobilitätsmanagement muss vom Bund gefördert werden. Leider werden diese einfachen Lösungen für mehr Wahlfreiheit und Klimaschutz nicht aufgegriffen. Und die Dienstwagenbesteuerung, die sowohl ökologisch als auch sozial ungerecht ist, wird nicht substanziell geändert. Das ungemein wichtige Ziel des Koalitionsvertrags, klimaschädliche Subventionen abzubauen, steht schon vor Beginn der Regierungsarbeit völlig auf verlorenem Posten. Das ist, wie gesagt, fatal für den Verkehrssektor.
SAZbike: Welche Projekte in Bezug auf das Radfahren sollte die neue Regierung als Erstes angehen?
Von Rauch: Die Reform des StVG hat für mich die oberste Priorität. Daraus ergibt sich dann vieles an Maßnahmen und Anpassungen auch der Straßenverkehrsordnung, das Potenzial ist wie gesagt enorm. Damit die zur Verfügung stehenden Gelder für den Ausbau der Radinfrastruktur auch wirklich abgerufen werden, ist eine Personaloffensive der Bundesregierung notwendig. Es fehlen deutschlandweit sehr viele Radverkehrsplaner und -planerinnen – genauso, wie es insgesamt an allen Ecken und Enden der Fahrradwirtschaft mehr Personal braucht. Es herrscht Fachkräftemangel. Ob Fahrradingenieure und -ingenieurinnen oder Personal in den Werkstätten: Hier müssen politisch entsprechende Angebote in Universitäten und für Ausbildungen und Umschulungen gefördert werden.
Ein dritter Punkt, den ich noch nicht erwähnt habe, der aber keinen Aufschub erlaubt: die Reform des Bundesverkehrswegeplans, der gehört als Mobilitätsgesetz komplett neu aufgesetzt. Jetzt ein bisschen die Prioritäten zu verschieben und ab 2040 etwas Neues zu planen, ist zu spät. Dann sind die Weichen gestellt.
SAZbike: Glauben Sie, dass die nachhaltige Mobilitätswende innerhalb der Legislaturperiode bis 2025 entscheidend vorangebracht wird?
Von Rauch: Es sieht nicht danach aus. Aber natürlich ist das der Anspruch, den wir als Fahrradverband haben, und damit stehen wir auch nicht allein. Viele Volksentscheide zu mehr Fahrrad und Millionen Unterschriften haben gezeigt, dass es eine breite Bewegung in der Bevölkerung gibt, die den Straßenraum neu aufteilen und Mobilität neu denken will. Wir sind gespannt auf die nächsten vier Jahre und werden uns konstruktiv einbringen. Wir sehen den Koalitionsvertrag lieber als Ausgangspunkt für die politischen Aktivitäten der kommenden vier Jahre. Dieser ist – wie gesagt – nicht in Stein gemeißelt und die Erfahrung lehrt uns, dass noch kein Koalitionsvertrag das exakte Drehbuch für die kommenden vier Jahre geliefert hat.
„Das ist ein Aufruf in die Branche: Werdet aktiv, Ihr seid die Fahrradwirtschaft!“
SAZbike: Wie wichtig ist dabei die Lobbyarbeit von Verbänden wie dem Bundesverband Zukunft Fahrrad, dem Verbund Service und Fahrrad, dem Zweirad-Industrie-Verband und dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club?
Von Rauch: Die Lobbyarbeit ist extrem wichtig! Um es klar zu sagen: Die nachhaltige Mobilitätswende wird nicht von selbst kommen. Dafür braucht es politische Impulse aus der Wirtschaft und aus der Zivilgesellschaft. Die Politik ist angewiesen auf die Erfahrung und Expertise der Branche.
Das Gute ist: Die Fakten und Argumente haben wir. Aber wir müssen diese im politischen Dialog, mit guten Studien, Veranstaltungen oder Kampagnen, immer wieder einbringen. Dafür braucht es einen langen Atem und Verbände, die sich auf entsprechende Ressourcen stützen können. Das ist ein Aufruf in die Branche: Werdet aktiv, Ihr seid die Fahrradwirtschaft! Bringt Euch in den Verbänden ein und beschäftigt selbst Personal für die politische Kommunikation. Denn wir müssen ehrlich sein: Geschenkt wird uns nichts. Die Automobilwirtschaft und andere Branchen haben vielleicht schlechtere Argumente, aber ganz andere Mittel zur Verfügung, um ihre Forderungen und Ziele zu platzieren. Die Fahrradbranche wird immer professioneller und politisiert sich weiter, aber wir haben nicht viel Zeit, die kommenden Jahre sind entscheidend. Es ist an uns, jetzt schnell genug zu sein. Gelingt das, bin ich sicher: Die Zukunft gehört dem Rad.
SAZbike: Herr von Rauch, vielen Dank für das Gespräch.