Brief an Oberbürgermeister Dieter Reiter
14.12.2021, 14:07 Uhr
Radentscheid München sieht Radverkehrsziele in Gefahr
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) äußerte sich kritisch zum Bau von Radwegen. Der Radentscheid München reagiert mit einem offenen Brief.
München will seinen Radverkehrsanteil bis 2025 auf mindestens 25 Prozent steigern. 2019 lag dieser bei 18 Prozent. Damals sammelte der Radentscheid München Unterschriften, eine für einen Altstadtradlring, eine für breite und sichere Radwege. Diese Unterschriftensammlungen wurden bereits nach drei Monaten beendet, da die notwendigen 33.000 Unterschriften jeweils um mehr als das Doppelte erreicht wurden. Mit zusammen rund 160.000 Unterschriften gelangen dem Bündnis damals nach eigener Darstellung die zwei erfolgreichsten Bürgerbegehren der Münchner Stadtgeschichte. Der Münchener Stadtrat übernahm beide Bürgerbegehren, sodass es zu keinem Bürgerentscheid mehr kam.
Nun sieht der Radentscheid München die damals gesetzten Ziele, etwa 25 Prozent Radverkehr, in Gefahr. Ursache ist ein Interview von Oberbürgermeister Reiter in der Süddeutschen Zeitung vom 11. Dezember. Aus dem Interview zitiert der Radentscheid Dieter Reiter mit dieser Aussage: „Nicht nur die anderen politischen Ebenen bestimmen von oben stark die Kommunalpolitik, sondern auch immer mehr die Münchnerinnen und Münchner von unten. Mit Bürgerentscheiden für den Bau von Radwegen, für den Kohleausstieg und jetzt vielleicht auch beim Bau von Hochhäusern. Wie kann die Kommune trotzdem handlungsfähig bleiben? Die gewählte Stadtvertretung ist zuständig für Entscheidungen. Das ist mein Verständnis von Demokratie. Bei den Radlwegen wird gern so getan, als hätte sich die ganze Stadt dafür entschieden. Mit Verlaub, das waren 80.000 Unterschriften pro Begehren. Das sind keine zehn Prozent der Wahlberechtigten. Und trotzdem wird nicht eine Sekunde angezweifelt, dass uns das die nächsten Jahrzehnte bindet, dass man jeden Radweg, sei er noch so sinnfrei, auf jeden Fall durchsetzt.“
Offener Brief des Radentscheid München an Dieter Reiter
Dazu schreibt der Radentscheid in diesem offenen Brief:
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
mit großem Befremden habe wir in der Süddeutschen Zeitung vom 11. Dezember gelesen, dass Sie sich nicht an die Entscheidungen zum Radentscheid und zum Altstadt-Radlring gebunden fühlen, die unter anderem Ihre Partei selbst getroffen hat.
Gerne möchten wir Sie in ein paar Punkten korrigieren:
Die Bürger und Bürgerinnen der Stadt München haben keineswegs selbst abgestimmt – den Beschluss hat der Münchner Stadtrat in relativ großem Einvernehmen am 24. Juli 2019 selbst gefällt (Damals schloss sich der Münchener Stadtrat den Forderungen beider Bürgerbegehren an, die Redaktion). Wir erinnern uns noch gerne daran, mit welch großer Begeisterung Sie am 4. Juli 2019 die 160.000 Unterschriften für beide Begehren entgegengenommen haben. Diese Unterschriften waren natürlich ein deutliches Zeichen – mehr aber auch nicht – den Beschluss zur Umsetzung unserer Forderung haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen im Rathaus gefasst. Anders wäre es gewesen, wenn wir einen Bürgerentscheid hätten gewinnen müssen, dann hätten wir konkrete Zahlen darüber, wer in München dafür und wer dagegen gestimmt hat. Dazu kam es aber durch die Übernahme gar nicht, Ihre Aussagen zu den Zahlen sind also eher Spekulationen. Mit Ihren Worten sprechen Sie eigentlich gegen Ihren eigenen Beschluss, das erstaunt uns dann doch.
Wir wissen nicht genau, welche Maßnahmen Ihrer Verwaltung Sie als sinnbefreit empfinden. Wir hingegen können nur sagen, dass es bei weitem noch nicht ausreicht, was bislang umgesetzt wurde, für uns aber erfreulich ist, dass Bewegung in die Sache kommt. Nimmt man die weiteren Ziele, die sich der Stadtrat selbst gesetzt hat (Sauba sog i, Klimanotstand etc.) ernst, dann müsste der Maßnahmenkatalog hinsichtlich Verkehrswendeprojekten doch deutlich anders aussehen. Unverständlich ist uns, warum Sie gerade jetzt, wo wir erfreut darüber sind, dass es zumindest ein paar Maßnahmen über das Reißbrett hinausgeschafft haben und es bereits erfolgreiche Öffentlichkeitsbeteiligungen gab, warum Sie also zu diesem Zeitpunkt Ihrer Verwaltung in den Rücken fallen. Zumindest wirken Ihre beiden Interviews in Bild und der Süddeutschen Zeitung nicht gerade unterstützend in unseren Augen. Weder für Radfahrende noch für Ihre Verwaltung.
Ende 2019 wurde der Klimanotstand ausgerufen – betrachtet man den aktuellen Klimagrundsatzbeschluss, so ist darin klar erkennbar, dass sich die wenigen Maßnahmen im Bereich Verkehr nicht auf die CO2-Reduzierung innerhalb Stadt auswirken. Vielleicht sind dann ein paar Maßnahmen für mehr zufriedene Radfahrende doch nicht so sinnbefreit? Wir wissen, dass wir auf einen Radverkehrsanteil von mindestens 25 Prozent bis 2025 kommen müssen, mit den bisherigen Maßnahmen und Ihren Aussagen wird das nicht zu schaffen sein.
Als unschön empfinden wir es auch, dass in beiden Interviews eigentlich zwei Gruppen gegeneinander ausgespielt werden – und das obwohl Sie sich doch eigentlich als Mittler verstanden wissen wollen. Was nützt es uns allen, wenn jetzt Radfahrende gegen Autofahrende ausgespielt werden? Diese Rhetorik verwenden Populisten – bitte machen Sie sich nicht mit denen gemein.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, bitte lassen Sie uns weiter gemeinsam an der Verkehrswende arbeiten. Nutzen Sie die Unterstützung die Sie und Ihre Verwaltung aus der Gesellschaft, zum Beispiel durch den Radentscheid und den vielen ehrenamtlich Tätigen dort, bekommt und verschenken Sie dieses Potenzial nicht. Wir wollen und brauchen eine Verkehrswende – wir sind weiterhin bereit dazu!“