Mieträder und Mikromobilität
30.06.2021, 08:35 Uhr
Handelsforscher sehen noch großes Potenzial in Mietflotten
Das Institut für Handelsforschung Köln (IFH) sieht noch viel Marktpotenzial in Mietangeboten. Besonders Online-Plattformen mit nutzerfreundlichen, kombinierten Angeboten könnten noch mehr Kunden gewinnen.
Kunden sehen öffentliche Verkehrsbetriebe in einer guten Ausgangsposition für kombinierte Plattformen. Grund ist deren Präsenz und Bekanntheit vor Ort.
(Quelle: IFH Köln)
Leihräder, Roller und Scooter sind das sichtbare Zeugnis einer tiefgreifenden Mobilitätstransformation. In der Studie des IFH-Ablegers E-Commerce-Center Köln (ECC) wird deren deren Marktpotenzial geprüft und untersucht, ob sich alles auf einer zentralen Plattform bündeln lässt.
Gefragt wurden Großstädter zwischen 18 und 55 Jahren in Deutschland, den Niederlanden und den USA. Wie oft, womit und wo sind diese Zielgruppen auf der Straße unterwegs? Ist Sharing eine theoretische Alternative, und gar eine genutzte Option?
Über 80 Prozent der befragten jungen Großstädter bewegen sich fast täglich außerhalb der eigenen vier Wände, etwa zur Arbeit, in die Geschäfte in der Nachbarschaft und den Supermarkt, oder in der Freizeit. Der eigene Pkw und das eigene Rad werden dabei viel genutzt. Der Abgesang auf das eigene Auto komme jedoch offenbar viel zu früh. Das so genannte Teilen, ein Euphemismus für Mieten, sei in vielen Fällen eben nicht das neue Haben. Im Gegenteil, der Pkw-Bestand wächst Jahr für Jahr. Und die Jugend macht noch den Führerschein und fährt auch noch Auto. Die Zufriedenheit mit den eigenen Transportmitteln, vor allem mit dem eigenen Auto vor der Haustür, sei im Übrigen auch am höchsten. Deutlich höher als die Zufriedenheit mit Mietfahrzeugen, ob Auto, Rad oder Scooter.
Aber: Die Mikromobilität legt zu. Scooter, Sharing-Fahrräder, Shuttle und Fahrdienste gehen in die Lücken, die verstopften Knotenpunkte, die chaotischen Ankunfts- und Umsteigezonen, die lästigen Wartezeiten. Sie beschleunigen die Kurzbesorgung, transportieren den Großeinkauf oder befördern das Möbelstück. Lieber ein Auto mieten als Sitze und Dachhimmel des eigenen Pkw mit der sperrigen Küchen-Eckbank beschädigen. Und: Mikromobilität werde zum Ereignis an sich, mal cruisen und posen, die Freundin hinten auf dem Trittbrett.
Handel als Profiteur von Shared Mobility
Vieles geschieht spontan und flexibel. Man läuft über die Straße, sieht die bunten Scooter-Wolken, das grün-orangene Citybike, den Uber-Fahrdienst. Vielleicht auch den vorbeisausenden Scooter. Oder nur ein Plakat davon. Und man legt los. Winkt, sucht, wischt, bucht. Schnell aufspringen und losfahren: One Tap und die Räder drehen sich, die Technik macht es möglich.
Der Spontan-Markt ist mittlerweile ein Milliarden-Markt. Der Kampf um die mobilen Kunden ist entbrannt. Immer mehr Sharing-Anbieter gehen in die Metropolen, und von da aus in die Mittel- und Kleinstädte. Hier ist der Wettbewerb (noch) kleiner, man kann den eigenen Sharing-Dienst leichter auf die Straße bringen. Und ungleiche Wettbewerber treten gegeneinander an: Der lokale Bikesharing-Anbieter kämpft gegen digitale Global Player, die Taschen voller Kapital, kämpft gegen die nationale Bahngesellschaft, mit weitverzweigtem Schienennetz und Fahrradständern vor jedem Bahnhof. Und irgendwo mischen auch die Fahrzeughersteller mit, versuchen es zumindest, mit Autos, Shuttles und Rädern.
Das alles zeigt sich als bunter Flickenteppich. Eine Datenbank der Free Floating Sharing Systeme zeigt für Europa über 970 Stadt-Anbieter-Kombinationen. An allen Ecken und Enden blüht das Sharing auf. Verblüht auch teilweise schnell. Wandelt sich: Übernahmen und Umfirmierungen sind an der Tagesordnung. Auch neue Initiativen werden immer wieder gestartet: Es geht in weitere Städte hinein, weitere Sharing-Dienste werden ergänzt (neben dem Scooter jetzt auch das Rad) und überhaupt weitere Services. Wer geografisch expandiert, in die Fläche geht, kann das Mobilitätsnetz und das Handling der Infrastruktur auch gleich für weitere Dienste, etwa für Essenslieferdienste nutzen. Uber Eats ist schon länger am Markt, die Scooter-Anbieter Bolt und Helbiz wollen nachziehen. Und die Super-Apps in Asien (Gojek, Grab) zeigen, welche Potenziale noch auf der Straße warten: Möbeltransport, Massage- und Schminkservice, Kino- und Theaterkarten. Vor allem auch Payment. Ein ganzes Ökosystem gedeiht in der „Everyday Everything App“, die mal bescheiden als Taxidienst begonnen hat.
Investitionschance Mikromobilität
Und das Karussell dreht sich weiter. Aktuell fließt wieder viel Geld in die Mikromobilität. Die Jahre 2017 und 2018 waren bislang Höhepunkte des Investitionsvolumens. Jetzt werden die Portemonnaies wieder geöffnet. Zuletzt hat Goldmann Sachs investiert. Auch ein deutscher Fleischverarbeiter, die Heristo Gruppe, steigt in den Ring. Bislang hat Heristo mit Ferdi Fuchs-Würstchen von sich reden gemacht. Jetzt wird Möve Bikes (ehemals VEB Möve-Werk), die ihre Räder über eine Bikesharing-Plattform verkaufen, von strenger Metzgerhand geführt.
Offenes Rennen um die Plattformherrschaft
Mit der neuen Mobilität, den Scootern, Leihrädern und Shuttle-Bussen sind große Erwartungen verbunden. Gigantische Umsatzvolumina und verheißungsvolle Potenziale stehen im Raum. Das lockt Player an, die das Potenzial für sich ausschöpfen wollen, indem sie den Markt auf ihrer Plattform bündeln und zu ihren Bedingungen dirigieren.
Gemeint sind die großen Machtmaschinen der Moderne, die Onlineplattformen. Branche für Branche zeigt sich ihre Dominanz. Oft sind es auch die identischen Plattformen, die in (fast) jeder Branche auftauchen, wohin auch immer man sich wendet. Sie werden zur „Everyday Everything App“.
Ist auch die Mobilität der Menschen „plattformisierbar“? Kommt bald das Amazon des Verkehrs? Um die Fragen zu beantworten, schauen wir zunächst einmal auf die (potenziellen) Kundinnen und Kunden.
Ansatzpunkte dafür sind die Schwächen aktueller Angebote. Die IFH Köln erklärt: „Unsere Studienergebnisse zeigen: Bemängelt wird, dass man für die Nutzung unterschiedlicher Anbieter und Systeme jeweils eigene Apps benötigt. Heute eine Scooter-App von A, morgen eine Fahrrad-App von B und übermorgen die Shuttlebus-App von C. In der Summe sind das zu viele Apps, wie Kunden monieren. Und für jede App muss zudem ein eigener Registrierungsprozess durchlaufen werden. Der mag noch so kurz sein, er stört einfach. Vor allem dann, wenn die Nutzung spontan entschieden und direkt gestartet werden soll. Hinzu kommt mangelnde Preistransparenz. Viele Nutzer sehen sich einer Angebotsvielfalt und einem Tarifdschungel gegenüber, den sie nicht durchschauen, vielleicht auch nicht durchschauen sollen. Und im Endeffekt zahlen sie oft mehr als sie eigentlich geplant haben oder als angemessen erachten.“
Eine App – Alles drin?
Für Plattformen würden damit zwei Eintrittstore in den Mobilitätsmarkt geöffnet: Plattformen können mit einmaliger Registrierung werben, so die Kölner. Wer auf einer Plattform angemeldet ist, kann Fahrzeug- und Anbieterübergreifend mieten. Alles, was auf der Plattform präsent ist, befindet sich dann im direkten Kundenzugriff. Und Plattformen können Transparenz bieten, einfaches Filtern und Vergleichen ermöglichen.
Dazu sollte die Plattform übersichtlich und einfach gestaltet sein, so die Nutzer-Meinung. Kein Schnickschnack bitte, so die Mahnung. Und sie soll funktional sein, sie soll Angebote verschiedener Verkehrsmittel integrieren, Preistransparenz herstellen, auf Angebote verweisen, direktes Navigieren zum Wunschziel ermöglichen.
Das bedeutet: Mobilität wird „Plattformisierbar“. Den Plattformgedanken tragen die User grundsätzlich mit. Zudem haben sie klare Vorstellungen im Detail. Wer aber macht sich auf den Weg zum Plattformanbieter? Und wer sollte sich auf den Weg machen?
Im Rahmen der ECC Club Studie hat die IFH Köln potenzielle Kunden gefragt, wer aus ihrer Sicht der „natürliche“ Plattformanbieter ist. Haben sie diesbezüglich eine Präferenz? Einigen ist es tatsächlich mehr oder weniger gleich. Hauptsache, dass richtige Angebot steht auf der Straße. Aber eine Mehrheit hat klare Vorstellungen. Auf der Liste ganz oben stehen die kommunalen Verkehrsbetriebe. Besonders ausgeprägt ist die ÖPNV-Tendenz bei älteren Kunden (über 50 Jahren), aber auch jüngere Kunden (unter 30 Jahren) sehen den ÖPNV leicht vorne.
Das mag zunächst erstaunen, ergibt aber bei näherer Betrachtung Sinn. Sicher, die kommunalen Verkehrsbetriebe haben aus Kundensicht weniger Mobilitätskompetenz als die Fahrzeughersteller, aber auch weniger Digitalkompetenz als Google. Die Schnittmenge aus Mobilität und Digitalisierung, in der sich vieles im Bereich New Mobility abspielt, besetzen sie also nicht. Aber sie sind vor Ort präsent, haben bereits eine Infrastruktur und Kapazitäten. Und die Kunden kennen und nutzen sie, wenn auch schon mal maulend und widerwillig. Die kommunalen Verkehrsbetriebe haben damit den Vorteil der regionalen Verankerung, die ihnen Ansatzpunkte in der Fläche und den direkten Zugriff auf die Kunden erlaubt.
Wer hat Plattformpotenzial?
Und wer positioniert sich als Plattform? Es gibt einige lokale Platzhirsche: Hierbei handelt es sich um Anbieter, die ihn einer Stadt bzw. für eine Region Mobilitätsangebote bündeln und zum Sharen abrufbar machen. Paradebeispiel sind die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), die mit Jelbi eine Plattform für Berlin etabliert haben, die verschiedene Anbieter (z.B. Cambio, Flinkster, Nextbike, Tier, Voi) und auch diverse Verkehrsmittel vom Scooter bis zum Taxi umfasst.
Die Nationale Lösung: In den Niederlanden entsteht aktuell eine nationale Plattform. Hinter der Kraftanstrengung steht ein Joint Venture, dem auch die niederländische Bahn angehört. Letztere betreibt jetzt schon mit OV-Fiets eines der größten Bike-Sharing-Systeme im Land. Die Plattform soll diesen Herbst fertig sein.
Digitale Giganten mit Ambitionen: Gemeint ist zum einen Google Maps. Über die App sollen Fahrkarten für Bahn und Bus gebucht und bezahlt werden können. In der Ausbaustufe soll das Programm mehr als 80 Verkehrsbetriebe weltweit umfassen. Auch Uber meldet Ambitionen an. Der CEO Dara Khosrowshahi verkündete, Uber wolle das „Amazon des Transports“ werden (zwischenzeitlich auch das „Amazon und Google des Transports“). Und er lässt der markigen Ankündigung Taten folgen: Eine Beteiligung an und Integration von Lime in die App ist bereits erfolgt. Ebenfalls die Integration des ÖPNV mit Fahrtenbuchung und Ticketbezahlung.
Traditionelle Mobilisten: Die Fahrzeughersteller haben verschiedene Anläufe in neue Mobilitätskonzepte hinein unternommen. Viele Vorstöße und Initiativen wurden aber wieder eingestellt oder zurückgebaut. BMW und Daimler versuchen es mit Reach Now. Auch der VW-Konzern ist rührig, vom Ride-Pooling bis hin zum Scooter-Sharing wird einiges erprobt. Insgesamt scheint der Erfolg bislang aber eher überschaubar, das Blech steht immer noch im Fokus.
Der Wettbewerb um die Plattform-Vorherrschaft ist gerade erst gestartet. Bislang wurden Teilerfolge in regionalen Hochburgen erzielt – nicht nur in Berlin, auch in Helsinki, wo die Plattform Whim von sich reden macht. Überhaupt scheint die neue Mobilität überwiegend von Stadt zu Stadt zu Stadt zu expandieren. Daneben scheine auch die niederländische Staatslösung vielversprechend. Auf einen Schlag wird „plattformisiert“, der lokale Flickenteppich wird vermieden. Schließlich wirkt das freie Spiel der Marktkräfte: Mit Risikokapital-Macht drängen sich einige Anbieter in Städte und Regionen.
Und wie sieht nun die Antwort auf die Eingangsfrage aus? Haben sie, Investoren und Anbieter, das Geld auf der Straße gefunden? Unternehmensberater rechnen laut IFH Köln vor, dass letztlich alles profitabel aufgehen werde. Die asiatischen Super Apps scheinen auch schon im grünen Bereich angekommen zu sein. Jetzt verkünden erste Scooter-Sharer (Veo, Lime), sie hätten die Grenze zur Profitabilität überschritten. Insgesamt bleibt es aber eine Wette auf die offene Sharing-Zukunft.