Analyse
12.06.2018, 17:59 Uhr
Hat Local Commerce eine Chance?
Local-Commerce-Initiativen stehen von vielen Seiten unter Beschuss. Warum sich der lokale Handel mit der Digitalisierung so schwertut – und wie es besser gehen könnte.
Bad Honnef, muss sich für die Digitalisierung bereitmachen, davon ist Johanna Högner, vom Bundesland Nordrhein-Westfalen bestellte Wirtschaftsförderin, überzeugt. Damit die Innenstadt der 25.000-Seelen-Gemeinde am Rhein auch in Zukunft überlebensfähig und attraktiv bleiben kann, müssten sich die stationären Einzelhändler die Vorteile des Online-Handels zunutze machen, um „der zunehmenden Konkurrenz aus dem weltweiten Netz die Stirn zu bieten". Die von der Wirtschaftsförderin vorgeschlagene Lösung, um sich gegen Amazon, Ebay und Co. zu behaupten: ein lokaler Online-Marktplatz. 100.000 Euro wird die Stadt in das Projekt investieren, vom Land Nordrhein-Westfalen kommt noch einmal die gleiche Summe dazu. 2019 soll es dann an den Start gehen.
Genauso wie Bad Honnef suchen derzeit viele kleinere bis mittelgroße Gemeinden nach einem Mittel, um ihre lokalen Händler vor den Auswirkungen des boomenden Online-Handels zu schützen. Seit die Idee der regional begrenzten Online-Marktplätze vor einigen Jahren aufkam, hat sie sich wie ein Lauffeuer durch die Stadtmarketing-Abteilungen der Republik verbreitet. Über 70 Initiativen zählt die Informationsplattform Local-Commerce.info derzeit, die Varianten reichen von zentralisierten lokalen Visitenkarten, auf denen die Händler gerade mal Adresse und Öffnungszeiten digital zugänglich machen können, bis zu ausgefeilten und optisch hoch ansprechenden Shops wie dem Kiezkaufhaus mit Same-Day-Delivery-Option innerhalb des regionalen Liefergebiets.
Ist Local Commerce also eine Erfolgsgeschichte? Während manche Städte wie Bad Honnef erst auf den Zug aufspringen, laufen andernorts die ersten Modellprojekte wieder aus – und mit der öffentlichen Förderung endet oft auch das gesamte Local-Commerce-Vorhaben. In manchen Städten kommen die Marktplätze nicht aus den Pantoffeln, weil die örtlichen Händler nicht mitziehen und ihre Produkte schlicht auf der Plattform nicht zum Verkauf anbieten. Wieder andere Initiativen holen viele Händler ins Boot und punkten mit schön präsentierten Sortimenten – scheitern dann aber an einem zu kleinen Marketingbudget und damit an einem zu geringen Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung.
Von "zu klein gedacht" bis "Totgeburt"
„Viele lokale Initiativen sind bereits beim Start zu klein gedacht und mit zu geringen Budgets ausgestattet", sagt Oliver Brimmers, Local-Commerce-Experte beim IFH Köln. Folgekosten zur Bereitstellung relevanter Inhalte, für die Akquisition teilnehmender Händler oder eine regelmäßige SEO werden nicht berücksichtigt. Ebenso wichtig ist es, die Anzahl der Händler auf ein hohes Niveau zu bringen. Die Händler, die in einer anfänglichen Euphorie gestartet sind, können oftmals wenig positive Effekte feststellen. Häufig liegt dies an einer fehlenden Bekanntheit des Marktplatzes in der Bevölkerung.
Kein Wunder also, dass das Fazit der Händler zu den lokalen Marktplätzen oft verhalten ausfällt. Bei einer Umfrage der Hochschule Koblenz unter 200 Händlern, die an Local-Commerce-Initiativen teilgenommen hatten, gaben 60 % an, dass sie durch ihre Teilnahme keine zusätzlichen Umsätze erzielen konnten, weder online noch stationär. „Solche Plattformen sind kein Selbstläufer", warnt Studienleiter Andreas Hesse. „Es braucht hohe Aktivität und Entwicklungsarbeit bei den Händlern. Bei vielen Angeboten, die aktuell im Netz zu finden sind, stellt sich aber die Frage, welchen Mehrwert die Kunden von einer Nutzung haben sollen."
Ergebnisse wie die der Studie aus Koblenz sind damit Wasser auf die Mühlen der Local-Commerce-Kritiker, die die Sinnhaftigkeit der gesamten Idee schon seit ihren Anfängen infrage stellen. „Ich betrachte das Thema Local Commerce als Totgeburt", sagt beispielsweise Gerrit Heinemann vom Eweb Research Center der Hochschule Niederrhein. „Die Vorstellung, dass mit regionalen Marktplätzen die Frequenz der Innenstädte erhöht werden könnte, ist schlichtweg falsch. Man kann den Online-Kunden nicht zum lokalen oder regionalen Käufer umerziehen."
Seiner Meinung nach besteht die einzige Chance der lokalen Händler darin, vom Online-Boom zu profitieren. Da für viele kleine Händler ein eigener Online-Shop keine Option ist, empfiehlt der Experte den Online-Einstieg über einen der großen Marktplätze; nicht umsonst hat Heinemann an der Entwicklung des City-Experiments von Ebay mitgewirkt, im Rahmen dessen Einzelhändler erst aus Mönchengladbach und dann aus Diepholz auf die Plattform des Marktplatzes geholt wurden. Doch Heinemann betont: „Dabei geht es darum, stationäre Händler ins Netz zu holen – nicht darum, den Ebay-Käufer in die Innenstadt zu bringen."
Das neue Ziel: Marketing statt Umsatz
Sind lokale Marktplätze also zum Scheitern verurteilt? Auch nach Jahren voller Kritik vor allem aus der Online-Branche wollen die Befürworter ihre Idee noch nicht begraben – aber eventuell neu deuten. „Selbstverständlich hat Local Commerce eine Chance, wenn es mit Nachdruck von den Händlern ergriffen wird", ist Roman Heimbold überzeugt, Geschäftsführer der Markplatzplattform Atalanda, auf der die meisten der aktuell aktiven Local-Commerce-Initiativen laufen. „Lokale Marktplätze sind kein Wundermittel, helfen aber dem Endkunden, sich online zu orientieren. Um Effekte als Teilnehmer zu erzielen, ist es allerdings notwendig, dem Kunden einen echten Mehrwert zu bieten." Und dieser Mehrwert, so Heimbold, muss gar nicht unbedingt in einem tatsächlichen Shopping-Angebot bestehen. Auch Service und Informationen gehörten zum Marketing-Konzept Local Commerce.
So wie beispielsweise in Coburg, wie ein Blick in den kürzlich veröffentlichten Abschlussbericht der Bayerischen Regierung zum „Modellprojekt Digitale Einkaufsstadt" zeigt, mit dem seit 2015 lokale Initiativen in Coburg, Günzburg und Pfaffenhofen gefördert wurden. Die 41.000-Einwohner-Stadt hat mithilfe der Förderung eine Mischung aus Lokalnachrichten-Content-Plattform und digitalem Schaufenster für 53 örtliche Unternehmer geschaffen. Auf die Integration eines Shopsystems auf „Gocoburg" wurde dagegen fürs Erste verzichtet – zu kompliziert, so die Macher. Stattdessen gönnte man sich lieber eine mobile App und eine groß angelegte Marketing-Kampagne.
Das brachte Reichweite: Innerhalb eines knappen Jahres konnten 45.000 Unique User auf Gocoburg gelockt werden – vor Start des Projekts hatten lediglich 13.000 Unique User den Internet-Auftritt der Stadt besucht. Für die Zukunft sind eine Whatsapp-Beratung und ein Alexa-Skill geplant; das Shopsystem steht weiter unten auf der To-do-Liste. Das freut die Händler. „Gerade ein Online-Schaufenster wie Gocoburg eignet sich gut für eine eher emotionale Kundenansprache", meint der Coburger Buchhändler Martin Vögele von der Buchhandlung Riemann. „Der Kundenstrom, der nach einer Online-Suche unser Geschäft aufsucht, um hier vor Ort Bücher zu kaufen, ist von sehr viel größerer Bedeutung als unser eigener Online Shop."
Mehr zum Thema „Local Commerce" gibt es auf dem Internet World Congress am 10. Oktober im Vortrag „Local Commerce – Dichtung oder Wahrheit" von Gerrit Heinemann.