Steigende Unfallrisiken 29.03.2022, 13:36 Uhr

Allianz verlangt Helmpflicht für Elektroradfahrende

Die Allianz-Versicherung (München) warnt vor steigenden Unfallrisiken im Radverkehr und fordert eine Helmpflicht für Kinder bis 14 Jahren und für Pedelec-Fahrer und -Fahrerinnen.
Die Allianz hat die Unfallrisiken für Radfahrer und Radfahrerinnen untersucht.
(Quelle: Allianz Zentrum für Technik)
Die Unfälle des Zweiradverkehrs standen im Mittelpunkt der neuen Allianz Zweirad-Verkehrssicherheitsstudie. Jeder vierte Tote (insgesamt 294.000) und 41 Prozent (22 Millionen) aller Verletzten des weltweiten Straßenverkehrs verunglücken mit einem Fahrrad, Moped, Motorrad oder Vergleichbarem. In der EU ist jeder vierte Verkehrstote ein Radfahrer oder eine Radfahrerin.
„Die Unfallrisiken für Zweiradfahrer sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. In Deutschland sterben aktuell fast 40 Prozent der Verkehrsopfer als Zweiradfahrer, noch 2001 war es ein Viertel. Bei den Schwerverletzten stieg der Anteil von einem Drittel auf die Hälfte“, sagt Jochen Haug, Schadenvorstand der Allianz Versicherungs-AG. 983 getötete und 28.460 schwerverletzte Fahrradfahrende und Nutzer motorisierter Räder und E-Scooter gab es 2020. „Diese Entwicklung ist ethisch nicht hinnehmbar. Das Sicherheitskonzept Vision Zero fordert einen Straßenverkehr ohne gravierende oder gar tödliche Verletzungen."

E-Fahrrad und E-Scooter sind keine Spielgeräte

Der deutliche Anstieg bei den Zweirädern ist auch dem Trend zu Elektrozweirädern geschuldet. In den ersten zehn Monaten 2021 erhöhte sich die Zahl der E-Scooter-Unglücke gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 153 Prozent (von 1584 auf 4001), die der Schwerverletzten um 113 Prozent (von 306 auf 652). Bei den Fahrradopfern ist jeder dritte Getötete der Nutzer eines Elektrofahrzeugs). 
Die Allianz Studie zeigt außerdem: Das Sterberisiko (gemessen in Todesfällen pro verunglückte Personen) für Fahrradfahrende ist nach Berechnung des Allianz Zentrum für Technik (AZT) beim E-Bike gegenüber dem herkömmlichen Rad im langjährigen Mittel dreimal höher. Ein höheres Risiko findet sich nicht nur bei Senioren, sondern auch bei allen Jüngeren. Zwar sind E-Bike-Strecken im Schnitt länger als nicht motorunterstützte Radstrecken, aber die Jahresfahrleistung ist geringer. Die Quote an Alleinunfällen bei Fahrrad- und E-Bike-Nutzern und -Nutzerinnen liegt bei 28 Prozent. Bei einem Alleinsturz ist nach AZT-Berechnung das Risiko einer schweren Verletzung bei Fahrradfahrenden, inklusive E-Fahrrad, doppelt so hoch wie bei Unfällen mit Dritten.

Falsche Straßenbenutzung, hohe Geschwindigkeit und Ablenkung

Die Studie zeigt außerdem: Im Fahrradverkehr wird das Fehlverhalten „falsche Straßenbenutzung“ am häufigsten registriert. Unterschätzt wird auch die Ablenkung besonders bei jungen Menschen. 71 Prozent der 18 bis 24-Jährigen fahren nach einer Allianz Repräsentativerhebung mit Kopfhörern Fahrrad. Unfälle in der Nacht erfuhren Corona-bedingt einen Rückgang, doch Leidtragende des Radverkehrs bleiben die Senioren: 59 Prozent der getöteten Fahrradfahrerinnen und -fahrer sind älter als 64 Jahre.

Ohne Fahrradhelm mehr Kopfverletzungen

Nach Bundesstatistik ist bei Fahrradunfällen mit tödlichen Verletzungen zu circa 50 Prozent der Kopf betroffen. Die Allianz Schadendaten zeigen, dass Radfahrende ohne Helm 2,5-mal mehr Kopfverletzungen aufwiesen als mit Helm. Die Fahrradhelm-Tragequote steigt langjährig um circa ein Prozent pro Jahr und liegt aktuell bei 26 Prozent. Eine 100-Prozent-Quote ist je nach Szenario erst in ferner Zukunft zu erwarten – aus Sicht der Unfallforscher ist das inakzeptabel. Das Argument, eine Helmpflicht halte vom Radfahren ab, ist durch internationale Forschung nicht zu stützen. Dagegen ist die Akzeptanz einer Pflicht mittlerweile auch bei Radfahrenden hoch. „Aus unserer Sicht scheint es dringend geraten, zumindest über eine Helmpflicht für Kinder bis 14 Jahre und für Elektrofahrräder nachzudenken. Beides wirkt nach internationaler Erfahrung unfallmindernd und birgt Signalwirkung für das Sicherheitsbewusstsein aller“, sagt Christoph Lauterwasser, Leiter des AZT.

Sicherheitspotenziale von Assistenzsystemen ausschöpfen

Die Möglichkeit, mit Fahrerassistenz in die menschliche Fehlerkette einzugreifen, ist im Zweiradverkehr bei Weitem nicht ausgeschöpft. „Wir begrüßen die EU-Verordnung zur Einführung neuer Fahrzeugsicherheitssysteme. Sie schreibt Notbremssysteme, die Fußgänger und Radfahrer erkennen und selbstständig bremsen, ab 2024 in neuen Fahrzeugtypen und ab 2026 bei Erstzulassungen vor“, erläutert Christoph Lauterwasser. „Das hilft, in der Breite die Systeme auf die Straße zu bringen, die durch Aufprallvermeidung oder Verminderung der Aufprallgeschwindigkeit Leben retten können.“
Doch Technik allein reicht nicht. „Gute Fahrzeuge, Verkehrstechnik und Infrastruktur sind essenziell, aber sie kompensieren noch nicht Unerfahrenheit, Unwissenheit, Unachtsamkeit, Müdigkeit, Drogenwirkung, Risikofreude, Rücksichtslosigkeit oder schieren Mutwillen zum Regelbruch, bei allen Verkehrsteilnehmern“, sagt Jörg Kubitzki, Studienautor und Sicherheitsforscher im AZT. „Auf der Straße treffen nicht Fahrzeuge aufeinander, sondern Menschen, und ohne stärkeren Fokus auf Verhaltensrecht und Regelbefolgung wird das Unfall-Lagebild nur schwer zu korrigieren sein.“



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