Außenwirkung der Fahrradszene
21.06.2024, 12:16 Uhr
Heinrich Strößenreuther: „Die Branche muss auch an sich selbst arbeiten.“
Deutschlands bekanntester Fahrradaktivist Heinrich Strößenreuther vermisst in der Fahrradbranche Engagement und Selbstreflexion. Trotzdem zeigt er sich für die Zukunft optimistisch.
Heinrich Strößenreuther ist Fahrradlobbyist, Buchautor, CDU-Mitglied und Vordenker der Verkehrswende. SAZbike sprach mit ihm über die Entwicklung des Radverkehrs.
SAZbike: Hallo Herr Strößenreuther, wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der Verkehrswende in Deutschland?
Heinrich Strößenreuther: „Es geht in vielen Bereichen ziemlich kräftig voran. Nach der Entscheidung des Vermittlungsausschusses zum Straßenverkehrsgesetz können Tempo 30 und Radwege einfacher eingeführt werden. Mit den Radverkehrsprofessuren wird Fachpersonal ausgebildet, und vor allem wächst der Radverkehr massiv und kontinuierlich. Cycling is in!“
SAZbike: Dennoch gibt es immer wieder Reibungspunkte, etwa beim Umbau von Autoparkplätzen in Radwege. Wie bewerten Sie diese Konflikte?
Heinrich Strößenreuther: „Die Fahrradlobby richtet viel Aufmerksamkeit auf kleinere Scharmützel mit Verwaltung und Politik, etwa beim Umbau von Autoparkplätzen in Radwege. Wenn Privilegien geändert werden, etwa bei der Flächenverteilung, ist Widerstand völlig normal. Die Verkehrswende läuft zwar langsam, aber es gibt keine Rückabwicklung. Der Umbau von Infrastruktur braucht seine Zeit. Hierfür braucht es eine gute Change-Strategie: Es geht darum, skaliert Veränderungen unter der Wahrnehmungsschwelle anzuschieben.“
SAZbike: Was muss die Fahrradbranche tun, um solche Konflikte für sich zu entscheiden?
Heinrich Strößenreuther: „Grundsätzlich leisten Organisationen wie Zukunft Fahrrad, der ZIV und der ADFC bereits wirksame Lobbyarbeit, und darüber bin ich froh. Die Industrie muss aber noch viel mehr in ihre Interessenvertreter, insbesondere auch die Radentscheide, investieren. Wir haben uns mehrfach um finanzielle Unterstützung aus der Industrie bemüht, etwa für wichtige Gerichtsprozesse, aber da kam viel zu wenig zusammen. Was soll dann erst eine Organisation wie Changing Cities sagen, die 50 Radentscheide initiiert hat und teilweise gerichtlich durchsetzen muss? Die erfahren nach meiner Einschätzung viel zu wenig Unterstützung. Oder lokale Initiativen, die vor Ort konkret jeden einzelnen Meter Radweg einzeln auskämpfen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es viele ehrenamtliche Ortsbürgermeister ohne Radverkehrskonzept. Da mangelt es nicht am politischen Willen, sondern an skalierbaren Planungstools für Ehrenamtliche mit wenig Fachwissen. Da könnte man Veränderung systematisch unterstützen.“
SAZbike: Sie haben erwähnt, dass die Fahrradbranche ihre Gegner unterschätzt. Können Sie das genauer erklären?
Heinrich Strößenreuther: „Manchmal glaube ich, die Fahrradbranche hat immer noch nicht verstanden, mit welchem Gegner sie es zu tun hat: Erstens die Automobilindustrie mit jahrzehntelanger, herausragend guter Lobbyarbeit und prall gefüllten Budgets. Zweitens die seit Jahrzehnten bestehende Loyalität der Politik und Bürger gegenüber dem Auto. Drittens glauben Teile des Einzelhandels, dass Radverkehr Umsatz kostet – was widerlegt ist. Um diese starken Widerstände zu überwinden, braucht es mehr Aufwand und Commitment. Nur Geld verdienen reicht nicht.“
SAZbike: Wie kann die Fahrradbranche ihre Position stärken?
Heinrich Strößenreuther: „Die Branche muss auch an sich selbst arbeiten. Teile der Fahrradbranche merken gar nicht, wie wir nach außen wirken. Da fehlt es an Selbstreflexion. Die Fahrradszene steht politisch dem rot-grünen Lager sehr nahe, das spiegelt sich in der Wortwahl und im Auftreten wider. Das wirkt auf bürgerliche Zielgruppen zu oft abschreckend. Manche merken nicht, wenn sie geöffnete Türen aus Versehen oder Vorsatz wieder verschließen. Ein aktuelles Beispiel ist neben Radvolution der Buchtitel ,Autokratie‘: Das ruft Bilder hervor, die bei autoaffinen Parteien und Bürgerinnen und Bürgern sofort die Abwehrhaltung und den Kulturkampf aktivieren. Natürlich fühlen die sich angegriffen. Aber wenn wir nicht mal miteinander sprechen, werden wir unsere Ziele nicht erreichen. Um das zu verhindern, sollten wir unseren Gegnern zuhören und versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden. Gute Radwege verbessern den Autoverkehr, denn jeder der umsteigt, reduziert Stau- und Parkplatzsorgen.“
SAZbike: Gibt es weniger umstrittene Bereiche, in denen der Radverkehr besonders stark zur Verbesserung der Mobilität in Deutschland beitragen kann?
Heinrich Strößenreuther: „Ja, da sehe ich zwei Themenfelder, in denen Bürgern nichts weggenommen wird: die Letzte-Meile-Logistik und die Verknüpfung von Fahrrad und Bahn. Die Kombination Fahrrad und Bahn muss besser werden. Was da möglich ist, haben die Niederlande gezeigt: Zwei Drittel des Zuwachses an Fahrgästen in der Bahn in den letzten 20 Jahren wurde nachweislich durch den Bau von Fahrradparkplätzen gewonnen. Für alles außerhalb des Bahnhofgebäudes, also auch den Platz unmittelbar davor, sind in Deutschland die Kommunen verantwortlich. Hier müssen durch die Kommunen bessere Fahrradparkplätze entstehen, um die Anreise zur Bahn überhaupt möglich zu machen. Ist der Pendlerparkplatz morgens um sieben dicht, wird mit dem Auto gleich in die Stadt gefahren. Die Bahnbranche hat ihre Hausaufgaben bzgl. ihrer rechtlichen Verantwortung bereits gemacht und wartet auf die Aktivitäten der Kommunen.“
Der Liefer-Verkehr belastet die Innenstädte und ist im aktuellen Umfang nur möglich durch permanente Verstöße gegen die Verkehrsregeln, etwa das Parken auf Geh- und Radwegen, was Auto- wie Radfahrer nervt. Wenn die Polizei die STVO konsequent durchsetzen würde, wäre das so nicht mehr möglich. Die Lösung wäre die Verlagerung von Logistik auf das Lastenrad und das Wiedererstarken des örtlichen Einzelhandels. Das Umsatteln aufs Rad reduziert den Stau des Kfz-Verkehrs und die Risiken im Miteinander. Mit Infrastruktur sorgt man präziser für ein Miteinander im Verkehr als mit allen Chi-Chi-Imagekampagnen.“
SAZbike: Werden sich die EU-Wahlen auf den Radverkehr auswirken?
Heinrich Strößenreuther: „Entscheidend ist das Präsidium der EU-Kommission. Präsidentin wird wohl wieder Ursula von der Leyen. In Bezug auf Umweltpolitik und Radverkehr arbeitet sie aus Sicht der Fahrradbranche eher gut, ich rechne also mit anhaltendem politischem Rückenwind. Eine größere Veränderung wird auch die höhere CO2-Steuer ab 2028. Dann rechne ich mit einem weiteren massiven Schub für den Radverkehr.“
SAZbike: Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Strößenreuther!