Online-Diskussion der Fahrradbranche
23.04.2021, 09:00 Uhr
Platzverteilung entscheidet die Verkehrswende
Der Pressedienst Fahrrad (Göttingen) diskutierte mit Fahrradverbänden und weiteren Branchenvertretern über die Rolle des Fahrrads für die Bundestagswahl.
Welcher Satz sollte im Koalitionsvertrag nach der Bundestagswahl im Herbst stehen? Damit eröffnete Gunnar Fehlau, Geschäftsführer des Pressedienst Fahrrad die Online-Diskussion mit Anke Schäffner, Leiterin des Politikbereichs beim Zweirad-Industrie-Verband (ZIV), Wasilis von Rauch, Geschäftsführer des Bundesverbands Zukunft Fahrrad (BVFZ) sowie Andreas Hombach, Key Account Manager beim Abstellanlagenhersteller WSM, Markus Krill, Geschäftsführer beim Kinderanhängerhersteller Croozer und Alexander Kraft, Pressesprecher des Liegeradspezialisten HP Velotechnik.
Wasilis von Rauch forderte, dass im Koalitionsvertrag ein Milliardenbudget für den Radverkehr festgelegt wird. Der Hintergrund: Alle Branchenexperten waren sich einig, dass Radverkehr sich mit besserer Infrastruktur, zuvorderst Radwegen und Abstellanlagen, sehr effizient und planbar fördern lässt. So sei etwa der Radverkehr durch den Aufbau von Pop-up-Radwegen um 20 Prozent gewachsen. Gleichzeitig sei aber auch der Autoverkehr stark gewachsen, und wenn der Radverkehr nicht nur in absoluten Zahlen wachsen, sondern auch einen höheren Anteil am Gesamtverkehrsaufkommen einnehmen soll, müsse endlich das Fahrrad mehr Platz erhalten. „Das Ziel im NRVP, den Radverkehr bis 2030 von der Verkehrsleistung zu verdoppeln, ist als Basis nicht schlecht und wir sind jetzt dran, da noch mehr rauszuholen“, so Wasilis von Rauch. Besonders in großen Städten ist die Flächenverteilung jedoch emotional umkämpft: Der Platz für bessere Radwege soll nach Vorstellung der Fahrradbranche durch Rückbau der Autoparkplätze entstehen.
Reinhold Goss ist der so genannte „Fahrradbürgermeister“ von Köln, dies ist ein Ehrentitel der niederländischen Organisation Bicycle Mayor für fahrradaffine Persönlichkeiten. Goss erwähnte, dass sich in Köln extrem viele Dooring-Unfälle ereigneten, also Radfahrer in sich öffnende Autotüren hineinfahren. Hier seien Frauen gefährdeter, weil Männer bei schlechten Radwegen eher mal auf die Straße ausweichen und genug Abstand zu den parkenden Autos halten.
Mit besseren Radwegen ließen sich nicht nur solche Fahrradunfällle vermeiden, sondern auch die Kehrseiten des Fahrradbooms abmildern, etwa Geisterradler entgegen der Fahrtrichtung, oder Radfahrer auf dem Fußweg. Manch darüber hinaus gehendes Fehlverhalten sei unentschuldbar, war sich die Runde einig, etwa das Ignorieren roter Ampeln. Das gelte es selbstverständlich abzustellen. Jedoch ginge vom Radverkehr keine vergleichbare Gefahr aus wie durch Kraftfahrzeuge, weil kaum ein Radfahrer andere Verkehrsteilnehmer totfährt, so Wasilis von Rauch. Radverkehr kann so die Vision Zero, also die Senkung der Verkehrstotenzahlen, voranbringen.
Goss empfiehlt zur Entschärfung der Konflikte mit Autofahrern den Perspektivwechsel: Er berichtet beispielsweise von einer Rennradgruppe, die mit eigentlich autoaffinen WDR-Journalisten in Köln auf Radwegen unterwegs war. Die Radfahrer zeigten den Reportern Stellen, an denen die Radwege jäh endeten. Wenn die Autofahrer die Probleme der Radfahrer verstehen, verstehen sie auch deren Verhalten besser, so Goss, der selbst Radtouren mit Personen aus der kommunalen Verwaltung unternimmt. „So haben wir viel erreicht“, berichtet er.
Andreas Hombach, Leiter Key Account Management von WSM, mahnt, dass Geld nicht immer das Problem sei: Fördergeld stünde für Abstellanlagen zwar zur Verfügung, dies würde aber oft nicht abgerufen, weil immer noch Fachpersonal in den Kommunen fehle.
Auch weniger Pflichten für das S-Pedelec könnten den Radverkehr voranbringen, weil damit längere Strecken dann eher per Rad zurückgelegt werden. Konkret wurde die Radwegnutzung für S-Pedelecs, wie aktuell in Tübingen erprobt, gefordert.
Markus Krill forderte politische Korrektur bei Anhängern: „Die Verkaufszahlen von Cargo-Rädern sind sicher beachtenswert, aber diese Zahlen schaffen wir seit vielen Jahren, und das obwohl Anhänger nicht leasingfähig sind. Es wäre mir ein großes Anliegen, wenn wir das Thema leasingfähiger Anhänger im Wahlkampf platzieren. Wir sind aktiv ein großer Gestalter der Verkehrs- und Klimawende.“
Ein versöhnliches Fazit fand die ZIV-Vertreterin Anke Schäffner: Obwohl Deutschland den Fahrradnationen Niederlande und Dänemark hinterher hänge, seien Deutschlands Radfahrer ungleich technikverliebter und würden darum jetzt besonders hochwertige Fahrräder kaufen und nutzen.